Die “territoriale Integrität” und die “Unversehrtheit der Grenzen”

Als vor einigen Jahrzehnten die ersten vom Weltraum aus aufgenommenen Bilder von der Erde erschienen, keimte an vielen Orten der Welt die Hoffnung auf, dass die Politik sich weltweit ändern könnte, denn angesichts der Schönheit und Verletzlichkeit des "Blauen Planeten" müsse man wohl weltweit endlich zur Vernunft kommen. Ganz besonders wurde ein Impuls zur Friedensfähigkeit darin gesehen, dass man von 'da oben' keine Grenzen sehen könne! Buchstäblich nur eine grenzenlos schöne Erde. Der Heimatplanet aller Menschen, dessen Schönheit und Verletzlichkeit zwingt die Weltpolitik in die Bahnen der Vernunft. Wenigstens soweit, dass niemand diesen Blauen Planeten um seiner politischen Absichten, Interessensphären und Eroberungsstrategien willen riskiert.
Von Wilfried Michalski

Und heute? Was durchzieht heute die politischen Diskussionen? Was wird heute als ehernes Fundament zwischenstaatlicher Befindlichkeiten hochgehalten und aus sämtlichen Talkshow-Sesseln mantrahaft beschworen? Territorien und Grenzen!  Wer kann sie noch zählen, die Verweise auf die "territoriale Integrität" und die "Unverletzlichkeit der Grenzen", das ganze immer wieder argumentativ flankiert vom "Selbstbestimmungsrecht der Völker"?
Hört sich edel an das "Selbstbestimmungsrecht der Völker". Aber ist das nicht letztendlich eine ganz grauslige Edel-Phrase? Etwas absolut Unzeitgemäßes? Etwas, das man sich mit Blick auf den Blauen Planeten gar nicht mehr leisten sollte. Müsste man nicht, wenn man schon das Zentralste, insbesondere im Atomzeitalter, schlagwortartig auf den kurzen Leisten bringen will, nicht eher von einer "Weltbewahrungspflicht der Völker" denn von einem "Selbstbestimmungsrecht" sprechen?
Ist es nicht das, was die Zeitverhältnisse von uns fordern? Haben wir nicht die Pflicht, den ganzen alten Gesinnungs-Schrott von Territorien, Grenzen und deren "Integrität" und "Unversehrtheit" endlich zu überwinden? Gibt es nichts Neues? Keine neuen Ideen, wie man Menschen und Menschen-Gemeinschaften organisieren kann? Muss das immer und ewig fort treiben in den Systematiken, die sich heute als Staaten und Staatengemeinschaften etabliert haben? Oder sollte man sich nicht ganz kräftig 'auf die Socken machen' um die heiligen Kühe eines abgestandenen und von Ideenarmut fortgeschleppten Staatsverständnisses vom Acker zu bringen?
Müsste man in Richtung anderer Menschen-Gemeinschaften nicht endlich einige unumgänglich einfache Fragen stellen: Wer oder was ist "Selbst" im "Selbstbestimmungsrecht"? Wer ist "Selbst"? Der Staat mit seinen Institutionen? Der Bundestag? Die Kanzlerin? Die Regierung? Das Kabinett? Der innerste Zirkel desselben, derer die man verorten kann im Kreise von 'need to know'? Wer bestimmt "sich selbst"? Das Volk? Der Volkswille? Die sogenannten Volksvertreter?
Oder ist man mit dem ganzen Selbst-Konstrukt im Staatszusammenhang nicht völlig auf der falschen Bahn? Muss nicht in aller Schärfe erkannt werden, dass das „Selbst“ eigentlich nur die freie und souveräne Person meinen kann?! Ist nur der Mensch selbst in der Lage sich selbst zu bestimmen? Kann demnach aus einer so grundlegenden 'Verwechslung' nur Unheil folgen, wenn also unter Staaten etwas entstehen soll (und hochgehalten wird) was eigentlich nur unter MENSCHEN entstehen kann?
Zeigt uns gerade nicht jeder Tag, dass wir an entscheidender Stelle etwas zutiefst verwechselt haben? Dass wir eben nicht daran arbeiten, dass wirklich die Menschen selbst sich nach eigenen Zielsetzungen, nach eigenen Lebensentwürfen, nach eigenen Seelen-und Geistesgemeinschaften, und – elementar wichtig – jenseits von Staaten, Territorien und Grenzen (und dem ganzen abgestandenen kalten Welten-Kaffee, den uns etliche Akteure Tag für Tag durch die Medien aufbrühen und durch die Talkshows schleifen) sich in freien Assoziationen begegnen und vernetzen können?
Warum arbeiten wir nicht daran?

Nicht nur in den Nischen einiger Unentwegter an den sogenannten "Rändern der Gesellschaft". Warum? Weil genau davor die ganze parteienbasierte Politik offensichtlich einen gehörigen Horror hat – und alles daran setzt, bloß nicht in die Entbehrlichkeit einer wirklichen Bürger-Politik zu geraten. Da ist offensichtlich kein Weg zu verbogen und zu verlogen, nur um sich selbst im (einträglichen) Stand der polit-strukturellen Unentbehrlichkeit zu bewahren.

Anstelle sich frei vernetzender Gemeinschaften aus den Zivilgesellschaften heraus, wird der kalte Kaffee eines Staates als vornehmlich ökonomische Zweck- und Strategiegemeinschaft ins suprastaatliche transformiert (Stichwort EU und ihre transatlantischen öknomisch-militärischen Bündnisse).

Ganz besonders perfide stellt sich dieses verwechseln der Ebenen im Signum der politischen Selbstbewahrung in den sogenannten Farben-Revolutionen in der Ukraine dar. Da haben einige sehr genau gesehen, was dort unter den Menschen lebt und nach Entfaltung, Freiheit und "Selbstbestimmung" strebt. Diese Kraft, diese Entwicklungs-Potentialität, musste eingefangen und in die eigenen ökonomisch-militärischen Belange umgeleitet werden!
Und in Folge dieses Umleitens (mitsamt neuer/alter Oligarchenmacht) gerät die Ukraine-Krise mit der unentwegt betonten "territorialen Integrität" ganz kräftig in den Sog des Völkischen und der ethnisch grundierten "Selbstbestimmungen"! So mutet die Szenerie an wie ein Tanzboden auf dem sich das Abgestandene, das gewissermaßen 'im Inneren der Zeit nach Überwindung Strebende', noch einmal austobt. Veits-Tanz im Signum des Territorialen und Nationalen (installiert und gelenkt aus Interessen sogenannter 'westlicher Wertegemeinschaften')!
Oder ist das keine Form der Besessenheit, ist das nicht 'Veits-Tanz', wenn die "territoriale Integrität" in einem Vorrang steht, vor der körperlich-seelichen Unversehrtheit der Menschen? Wie kommt es, dass Grenzen und deren "Unversehrtheit" die Menschen immer noch (und immer wieder) in die letzte Selbst-Entgrenzung bringen und zum Bombardieren und Zerfetzen des jeweiligen Feindes bringen können? Was läuft da schief? Welche Werte sind zentral verrutscht in welchen Gemeinschaften?
Sollten also nicht im Zeichen wirklicher Zeitgenossenschaft gegenüber dem oben genannten Bild von der Erde endlich mal fundamental andere Fragen in die Wahrnehmung kommen, als diejenigen, die zur Zeit buchstäblich herrschend sind? Könnten, ja müssten wir nicht einfach mal fragen: Erde – Wer bist du? Wo ist dein Eigen-Sinn? Wie können wir den Menschen-Sinn und den Erden-Sinn verbinden?
Und könnten im Licht solch einfacher Fragen, sozusagen mit dem Herzen durch die Augen, letztendlich nicht Territorien und Grenzen im Schatten des Vergangenen und Überwundenen versinken und endlich die gewetzten Messer niederlegt, die Panzer zerlegt und miteinander an einer menschenwürdigeren Welt gebaut werden?

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